top of page

Am Anfang der Geschichte

Humboldt Forum Magazin

Victor Ehikhamenor bezieht sich in seinen Arbeiten auf die gestalterischen Traditionen von Benin City. Für den Künstler endet das Kunstschaffen in Nigeria aber nicht mit den legendären Benin-Bronzen

 

Jedem Anfang wohnt ein Stück Neugier inne. An dem langen Wochenende zur Eröffnung des Ostflügels des Humboldt Forums, in dem sich die neu kuratierten Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst befinden, schieben sich unzählige Besucher*innen durch die weitläufigen Räume, die der Kunst Benins in Vergangenheit und Gegenwart gewidmet sind. Auf unzähligen Gesichtern erkennt man Interesse und sprachloses Staunen. Viele der Besucher*innen bleiben vor einem mit Spitze überzogenen Wandteppich aus Leinen stehen, der die Silhouette eines Herrschers mit Rosenkränzen aus rotem Plastik und einer Miniaturbronze zeigt: „The King, The Priest, The Chosen One“, so der Titel dieser zeitgenössischen Arbeit aus Nigeria. Angefertigt hat sie der Multimediakünstler Victor Ehikhamenor.

 

Der 52-Jährige gehört zu einer Generation nigerianischer Künstler*innen, die sich in ihren Werken auf die langen gestalterischen Traditionen von Benin City sowie Nigeria beziehen und vor diesem Hintergrund Originäres schaffen. Ehikhamenor war von klein auf kreativ tätig. Kunstmachen gehörte in seiner Familie in der Dorfgemeinschaft im Bundesstaat Edo, in dem er geboren wurde, zum Alltag. Solange er sich erinnern könne, habe er geschrieben oder gemalt. Für seinen Master of Fine Arts in Fiction ging Ehikhamenor an die Universität von Maryland und studierte dort, nach einem kurzen Abstecher ins Fach Technologiemanagement, kreatives Schreiben. Seine erste Ausstellung fand Ende der 1990er Jahre in Washington, D. C. statt; und 2017 war er sogar Teil eines Künstler-Trios, das – viel beachtet – den ersten Länderpavillon Nigerias auf der Biennale in Venedig gestaltete.

 

Im Humboldt Forum sitzt Ehikhamenor am Tag vor der Eröffnung an einem großflächigen Arbeitstisch zwischen den Vitrinen im Benin-Bereich. In einer von ihnen wird dokumentiert, wie Deutschland – und das Ethnologische Museum in Berlin – Restitutionsforderungen lange Zeit umging oder ablehnte. Die Repliken zweier Thronhocker seiner Vorgänger, die Oba Akenzua II. anstelle der angefragten Originale erhielt, wurden dem König von Benin 1937 gar in Rechnung gestellt.

 

„Man muss klarmachen, dass die Geschichte, mit der die Leute über Jahrhunderte abgespeist wurden, eine Lüge war. Sie war einseitig und rechtfertigte den Kolonialismus“, sagt Victor Ehikhamenor. Der heute in Lagos lebende Künstler engagiert sich seit Jahren für die Restitution der historischen Benin-Objekte, unter anderem im Legacy Restitution Trust in Nigeria. „Das sind keine gewöhnlichen, sondern spirituelle Werke, die aus ihrem Kontext gerissen wurden; es sind Bibliotheken, Archive. Im Westen nimmt man sie als ethnografische Stücke wahr, als Kunstwerke, aber es geht weit darüber hinaus.“ Es habe ihn immer seltsam berührt, wenn er sie hinter Glas oder in einer bestimmten Weise zusammengestellt gesehen habe.

 

Die Werke aus dem Königspalast in Benin, darunter die berühmten Gedenkköpfe, die in europäischen und nordamerikanischen Museen präsentiert werden, wurden nicht „gesammelt“. Sie waren Kriegsbeute. 1897 hatten britische Truppen das Königreich Benin erobert. Sie raubten den Königspalast und weitere Residenzen aus, verbannten den König ins Exil; Tausende Artefakte landeten weltweit als Hehlerware erst auf dem Auktionsmarkt, dann in Museen, so auch die Thronhocker von Esigie und Eresoyen, die 1899 bei einer Ver-steigerung in London für das Berliner Museum erworben wurden.

 

Ende August wurden auf der Basis jahrelanger Verhandlungen alle Benin-Objekte aus der Sammlung des Ethnologischen Museums der Staatlichen Museen zu Berlin an Nigeria übertragen, rund ein Drittel bleibt dabei als langfristige Leihgabe in Berlin. „Die Rückgabe wurde seit langer Zeit gefordert“, sagt Victor Ehikhamenor. „Deutschland hat gezeigt, dass sie möglich ist, wenn der politische Wille da ist.“ Aber er gebe den Deutschen keinen „Freifahrtschein“. Jahrzehntelang hätten sich die Museen kategorisch geweigert, die Objekte zurückzugeben. Deutschland könne jetzt nicht seine Hände in Unschuld waschen und sich von dieser Vergangenheit befreien. „Es ist nur ein kleiner Schritt.“ Ein Anfang, nach 125 Jahren, mit offenen Fragen; etwa jener nach dem Urheberrecht an den digitalen Aufnahmen der Benin-Objekte in den Archiven der Museen.

 

In den beiden Räumen im Humboldt Forum sind gegenwärtig 40 Kulturgüter aus Benin zu sehen. „Es ging uns darum, sie nicht nur als Ikonen der Raubkunst zu zeigen, sondern auch in ihrer Bedeutung für die globale Kunstgeschichte und die Edo-Kultur“, sagt Kerstin Pinther, Kuratorin für moderne und zeitgenössische Kunst im globalen Kontext an den Staatlichen Museen zu Berlin. Im Gespräch mit Kolleg*innen und Künstler*innen aus Nigeria habe man die Präsentation vor dem Hintergrund der aktuellen Restitutionsdebatte kurzfristig komplett überarbeitet und präsentiere nun einen „Zwischenstand“. Ein Glücksfall. Denn die historischen Objekte werden in der Moderne verortet, und das weitet den Blick auf die zeitgenössische Kunst aus Nigeria – mit skulpturalen Accessoires, Modeentwürfen und Collagetechniken, die sich in Material und Ästhetik von der historischen Benin-Kunst inspirieren lassen.

 

„Das Kunstschaffen in Nigeria oder im Königreich Benin endete nicht 1897“, sagt Victor Ehikhamenor. Er fungiert seit Jahren als Mentor für junge Künstler*innen, gründete in Lagos und Benin City Kreativzentren, unter anderem 2018 „Angels and Muse“ mit Coworking-Räumen und einer Residency. Museen wie das Edo Museum of West African Art in Benin City, das voraussichtlich 2025 eröffnet wird, sollen zukünftig nicht nur die restituierten historischen Objekte beherbergen, sondern auch einen Überblick über die zeitgenössische Kunst Nigerias vermitteln. „Die Geschichte ist nicht abgeschlossen“, sagt Ehikhamenor. Ein Anfang ist gemacht.

Für Humboldt Forum Magazin, Nr. 3 – November 2022

bottom of page